Christus an Rändern suchen
Domkapitular Dr. Thomas Witt ist Vorsitzender des Caritasverbandes für das Erzbistum Paderborn und seit Februar 2016 zusätzlich Sonderbeauftragter für Flüchtlingsfragen. cpd In seiner Botschaft zum Welttag des Migranten und Flüchtlings am 14. Januar verweist Papst Franziskus auf die traurige Situation von vielen Migranten und Flüchtlingen, die vor Kriegen, Verfolgungen, Naturkatastrophen und Armut fliehen. Er nennt es ein „Zeichen der Zeit“, für dessen Entzifferung er seit seinem Besuch in Lampedusa 2013 das Licht des Heiligen Geistes erflehe. Warum ist die Situation von Flüchtlingen so ein zentrales Thema für die Kirche?
Weil jeder Mensch in Not der Kirche als Aufgabe gegeben ist. Die Kirche erkennt im Menschen in Not den Herrn. Ganz nach dem Wort Jesu: „Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Die Not von Menschen reicht aus, um uns in die Pflicht zu nehmen. Der Papst sucht Christus an den Rändern der Kirche und der Gesellschaft. Deshalb fährt er nach Lampedusa und Lesbos; deshalb wäscht er am Gründonnerstag Flüchtlingen oder Gefangenen die Füße. Darin ist er für die Kirche ein Vorbild und unsere Gemeinden und Verbände tun daher gut daran, diesem Beispiel zu folgen und auch in Solidarität mit der Gesamtkirche den Welttag des Migranten und Flüchtlings zu begehen.
Der Papst schreibt, Kirche und Gesellschaft seien gerufen, auf die Herausforderungen durch die Flüchtlingsbewegungen „mit Großzügigkeit, Engagement, Klugheit und Weitblick“ zu antworten. Sind Kirche und Gesellschaft in Deutschland diesem Anspruch bisher gerecht geworden?
Paulus schreibt einmal: „Die Liebe schuldet ihr einander immer.“ Insofern gilt: Nach oben ist immer Luft. Aber ich glaube schon, dass die deutsche Kirche Großzügigkeit gezeigt hat und zeigt. Einmal in finanzieller Hinsicht: Die deutschen Bistümer haben 2016 insgesamt mehr als 127 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Aber vor allem im Engagement in den Gemeinden vor Ort. Viele Tausende haben sich mit ungeheurem Einsatz ehrenamtlich engagiert. Mir sind viele Ehrenamtliche begegnet, die etwa in rechtlichen Belangen von Flüchtlingen wahre Fachleute geworden waren, sodass sie so manchen Rechtsanwalt noch belehren konnten. Darin zeigen sich z. B. die Klugheit und der Weitblick, von denen der Papst spricht. So mancher hat sich auch über Gebühr eingesetzt, ist bei seinem Einsatz auch an Grenzen gekommen. Ich glaube, die Kirche ist so ihrer Verpflichtungen den Notleidenden gegenüber nachgekommen. Das zeigt sich auch im politischen Engagement. Wir haben vielfach die Stimme erhoben, sei es zur Frage der Aufnahme von Flüchtlingen allgemein, zum Familiennachzug von subsidiär Geschützten oder auch zur Frage der Abschiebung nach Afghanistan. Das Profil der Kirche ist in diesem Punkt deutlich geworden. Das zeigt sich auch an dem nicht unerheblichen Widerspruch, den sie dabei bekommen hat – von außen und von innen.
Seit zwei Jahren sind Sie Sonderbeauftragter für Flüchtlingsfragen im Erzbistum Paderborn, unterstützt von Hezni Barjosef als Flüchtlingskoordinator. Wie sind Ihre Erfahrungen mit Kirchengemeinden, Helfergruppen und Caritas-Konferenzen bei deren Umgang mit Flüchtlingen vor Ort?
Die Hilfe ist sehr vielfältig und bunt. Sie hat sich in den vergangenen zwei Jahren auch immer wieder verändert. Am Anfang stand vor allem die Suche nach Unterkünften, die Versorgung mit Nahrung und Kleidung. Vieles wäre ohne die Unterstützung der Ehrenamtlichen nicht möglich gewesen. Helfer der Caritas-Konferenzen und anderer Gruppen haben sich der Anliegen von Einzelnen angenommen und sie etwa bei Behördengängen oder Arztbesuchen begleitet. Dann kamen schnell Sprachkurse dazu, viele wurden ehrenamtlich durchgeführt, weil die Betroffenen noch keinen Zugang zu Integrationskursen hatten oder weil es einfach nicht genug Kurse gab.
Wo sehen Sie aktuell die Herausforderungen in der Flüchtlingsarbeit vor Ort?
Eine große Aufgabe ist die der Integration. Die Sprachvermittlung ist dabei ein wichtiger Bestandteil. Zunehmend kommen aber auch andere Aufgaben dazu. Die Vermittlung in den Arbeitsmarkt ist sehr wichtig für die Integration. Beim Zusammenarbeiten mit Deutschen wird die Sprache gelernt und das Selbstwertgefühl steigt, wenn Flüchtlinge den eigenen Lebensunterhalt verdienen. Sie werden wieder Herr ihres eigenen Lebens und erleben sich nicht mehr primär in der Opferrolle. Eine weitere große Aufgabe ist je nach Region die Beschaffung von Wohnraum. Gerade in Ballungsgebieten ist bezahlbarer Wohnraum sehr rar. Eine große Frage ist auch, wie wir mit Abschiebungen umgehen. Viele Helfer machen die Erfahrung, dass sie Menschen loslassen müssen, zu denen eine Beziehung gewachsen ist, für die sie auch ein Verantwortungsgefühl entwickelt haben. Vielen fällt es sehr schwer, diese Menschen loszulassen. Da versuchen wir, Strukturen aufzubauen, die Hilfe anbieten. Etwa durch die Caritas-Konferenzen im Erzbistum Paderborn, die Coaching für Ehrenamtliche anbieten. Oder auch durch eine Broschüre, die wir veröffentlicht haben, eine Handreichung für Ehrenamtliche in der Flüchtlingsarbeit mit dem Titel „Jeder Abschied ist schwer“.
Außerdem denke ich an die subsidiär Geschützten, die teilweise seit Jahren getrennt von ihren Familien leben müssen. Als Kirche werden wir uns für den Schutz von Ehe und Familie stark machen, und zwar unabhängig von Herkunft oder Aufenthaltsstatus. Alles andere geht an den Bedürfnissen von Menschen vorbei und erschwert das Ankommen in der neuen Heimat sehr.
Nicht zuletzt wird das Thema Rückkehr eine wichtige Rolle spielen. Realistisch gesehen, werden viele Menschen Deutschland verlassen müssen. Es stellt sich die Frage, mit welcher Perspektive. Sehr dankbar bin ich unseren Ehren- und Hauptamtlichen, die sich einerseits für eine ergebnisoffene Beratung stark machen, andererseits mit ihren kreativen Projektideen Rückkehrinteressierten eine Reintagration zumindest einfacher machen.
Politisch scheint Deutschland gerade in der Flüchtlingsfrage hin zu mehr Restriktion gerückt zu sein. Macht Ihnen das Sorgen?
Ja, macht es. Die Flüchtlingspolitik wird immer mehr zu einer Flüchtlingsverhinderungspolitik. Politischer Erfolg wird zunehmend nicht daran gemessen, ob den Menschen geholfen werden konnte, ob sie gut integriert werden, sondern daran, wie viele abgeschoben werden. Das Schicksal des Einzelnen ist kaum noch im Fokus. Menschen werden zu Zahlen. Die Welle von Hilfsbereitschaft und Mitgefühl, die am Anfang da war, wird von bestimmten politischen Kreisen diskreditiert. Da würde ich mir wünschen, dass wir immer wieder das einzelne menschliche Schicksal in den Blick nehmen.
Viele Kirchenmitglieder sind hin und her gerissen zwischen der Aufforderung Jesu, den Nächsten zu lieben wie sich selbst, und der Sorge angesichts vieler muslimischer Flüchtlinge um eine weitreichende Veränderung der noch immer christlich geprägten Kultur Deutschlands. Wie antworten Sie auf solche Bedenken?
Rein von den Zahlen her gesehen sind wir weit davon entfernt, muslimisch dominiert zu sein. Nur rund sechs Prozent der Menschen in Deutschland sind muslimischen Glaubens. Das Problem ist allerdings je nach Region unterschiedlich ausgeprägt. Wo ganze Stadtteile von Migranten und damit vielfach muslimisch geprägt sind, stellt sich diese Frage sicherlich dringlicher. Gesamtgesellschaftlich ist das aber noch keine Frage. Mehr Sorgen als die steigende Zahl von Muslimen macht mir die schwindende Zahl von Christen, woran allerdings nicht die Muslime schuld sind. Die gefühlte Stärke des Islam liegt zum guten Teil an der Schwäche des Christentums. Da mag die Begegnung mit Menschen anderen Glaubens, die ihren Glauben ernst nehmen, ein guter Anlass sein, auch über den eigenen Glauben nachzudenken und diesen neu zu entdecken. Diesen Ansporn bietet übrigens nicht nur die Begegnung mit Muslimen, sondern auch mit geflohenen Christen, die vielfach echte Zeugen für den Glauben sind.
Jedenfalls sind wir alle gefragt, die angesprochenen Sorgen ernst zu nehmen und im Gespräch miteinander für mehr Aufklärung zu sorgen. Hier sehe ich auch die Muslime und ihre Verbände in der Pflicht. Eine gute Gelegenheit dazu bietet die jährlich im September stattfindende interkulturelle Woche. Hier können Räume des Dialogs und des Kennenlernens eröffnet werden, die das zukünftige Zusammenleben erleichtern werden.