Geschlossene Grenzen als einzige Lösung?
Domkapitular Dr. Thomas Witt, Flüchtlingsbeauftragter im Erzbistum Paderborn
„Es wird mit allen Mitteln versucht, die Menschen davon abzuhalten, zu uns zu kommen“ sagt der Flüchtlingsbeauftragte des Erzbistums Paderborn, Domkapitular Dr. Thomas Witt. zur aktuellen Entwicklung in der Asylpolitik .
Herr Dr. Witt, 2016 wurden Sie Flüchtlingsbeauftragter für das Erzbistum. Wenn Sie zurückschauen: welche Entwicklung sehen Sie?
Witt: Ich würde auf das berühmte und inzwischen angefeindete Wort der Kanzlerin zurückkommen: Wir haben vieles geschafft! Hunderttausende wurden untergebracht, bekleidet, verpflegt und medizinisch versorgt. Durch eine beispiellose Zusammenarbeit fast aller gesellschaftlichen Gruppen mit den staatlichen Stellen, wurde das geschafft. Diese großartige Leistung sollten wir in den aktuellen Diskussionen nicht vergessen.
Hat sich die Lage verändert?
Witt: Ja und nein. Es ist nicht so, als ob alle sich von den Menschen, die zu uns gekommen sind, abgewandt hätten. Viele Ehrenamtliche und Hauptamtliche helfen auch heute mit geradezu unglaublichem Engagement. Die Herausforderungen sind anders geworden. Es geht nicht mehr um die lebensnotwendigen Dinge; die sind geregelt. Es geht mehr um Sprachkurse, Integration in den Arbeitsmarkt, Schulausbildung, Hilfen bei Behördengängen usw.
Aber die öffentliche Meinung scheint sich gedreht zu haben?
Witt: Zumindest die öffentliche und politische Diskussion. Die vielen Menschen, die auf einmal kamen, haben Ängste ausgelöst. Und natürlich stellen sich auch viele Fragen und Probleme. Vielleicht wurden die anfangs kleingeredet. Heute ist es eher umgekehrt: Die Herausforderungen werden zu unlösbaren Problemen stilisiert. Die einzige Lösung scheinen geschlossene Grenzen zu sein. Immer mehr wird nicht das Problem der Menschen gesehen, sondern die Menschen als Problem.
Wie beurteilen Sie die jüngsten Gesetzesänderungen?
Witt: Es wird mit allen Mitteln versucht, die Menschen davon abzuhalten, zu uns zu kommen. Und wenn sie da sind, dann versucht man, ihren Aufenthalt so schwierig wie möglich zu machen, damit sie möglichst freiwillig zurückkehren. Es werden also viele Signale der Ablehnung gesendet. Wenn sie dann doch als Asylberechtigte anerkannt werden, dann erwartet man große Integrationsleistungen. Dafür gibt es auch viel Hilfe. Welche Verunsicherung diese widersprüchlichen Signale bei den Menschen auslöst, kann man sich vorstellen.
Bei einigen Gesetzen im vom Bundestag und vom Bundesrat verabschiedeten sogenannten „Migrationspaket“ habe ich europa- und verfassungsrechtliche Bedenken. Es gibt Fragen, die am Ende Gerichte klären müssen. Dennoch hat die Politik nicht durchgängig die Regelungen verschärft und die Rechte von Flüchtlingen abgebaut. Verschärfungen z. B. in der Ausgestaltung der Asylverfahren wurden begleitet von einer grundsätzlichen integrationspolitischen Öffnung. Die Gesetzgebung spiegelt eher den Balanceakt zwischen dem berechtigten Versuch einer Migrationssteuerung und dem Bemühen für eine Integrationsförderung.
Was meinen Sie konkret?
Witt: Bevor nicht der Aufenthaltsstatus endgültig geklärt ist, werden die Menschen zunehmend in den Sammelunterkünften festgehalten. Sie dürfen keine Integrationskurse besuchen, nicht arbeiten, nicht den Wohnort wechseln, keine Familienangehörigen nachholen. Wenn Familien mit Kindern, wie es geplant ist, nach vier Monaten, aber spätestens nach sechs Monaten einer Kommune zugewiesen würden, wäre es noch vertretbar. Faktisch dauert es aber viel länger. Im Durchschnitt sind in den letzten Jahren von der Einreise bis zum ersten Besuch einer Regelschule sieben Monate vergangen, wobei die Bandbreite groß ist, manchmal vergehen mehr als zwölf Monate – das steht allen Kinderrechten entgegen. Allen Betroffenen fehlt diese Zeit dann; sie leben in dauernder Unsicherheit und oft in Verzweiflung.
Es sollen viele Maßnahmen ergriffen werden, um Abschiebungen zu beschleunigen: die Abschiebehaft soll vereinfacht werden, Afghanistan wird weiterhin als sicheres Land geführt. Wie schätzen Sie das ein?
Witt: Die Verschärfung der Abschiebehaft ist in weiten Teilen Symbolpolitik. Die meisten Abschiebungen scheitern nicht daran, dass die Menschen untertauchen. Die meisten scheitern daran, dass es deutsche Abschiebeverbote gibt: wegen Krankheit, weil keine Papiere da sind, weil die Heimatländer die Aufnahme verweigern. Und all diese Umstände werden durch die Gesetze nicht geändert. Abschiebungen nach Afghanistan halte ich weiterhin für einen Skandal. Fast täglich hört man von Verschlechterungen der Sicherheitssituation. Man versucht die Problematik damit zu mildern, dass man angeblich nur Straftäter abschiebt. Aber Menschenrechte gelten auch für Straftäter. Im Übrigen sieht die Abschiebestatistik nicht so schlecht aus, wie getan wird. Die meisten Ausreisepflichtigen verlassen unser Land. Die, die eine Duldung bekommen, bekommen diese aus guten Gründen.
Wie sehen Sie aktuell die Frage des Kirchenasyls?
Witt: Das Kirchenasyl ist ein letzter Versuch, abzuschiebenden Menschen ein Verfahren in Deutschland zu ermöglichen. Es wird durchgeführt in Härtefällen, wo den Beteiligten deutlich ist, dass eine Abschiebung ins Herkunftsland bzw. eine Rückführung in ein anderes EU-Land eine unzumutbare Härte darstellt. Es waren in unserem Bistum nie große Zahlen. Die beteiligten Gemeinden und Ordensgemeinschaften gehen sehr verantwortungsvoll damit um. Durch neue Regeln, die das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) bzw. das Bundesinnenministerium im letzten Jahr erlassen haben, werden die Rahmenbedingungen deutlich verschärft. Es wird offensichtlich alles getan, um das Kirchenasyl unmöglich zu machen. Auch ist die Anerkennungsrate signifikant zurückgegangen, was sicher nicht an den Fällen als solchen liegt. Der Einzelfall, der Mensch, der hinter den Fällen und Zahlen steht, gerät immer mehr in den Hintergrund. Das macht mir große Sorge.
Schlagzeilen macht immer wieder die Seenotrettung. Italien weigert sich, Schiffe mit Geretteten an Land zu lassen. Wie beurteilen Sie das?
Witt: Das ist sicher einer der größten Skandale dieser Jahre. Um die Grenzen zu schließen, wird billigend in Kauf genommen, dass Menschen ertrinken. Es wird nicht nur nichts unternommen, um zu helfen, sondern es werden die, die helfen wollen, systematisch kriminalisiert. Das ist allerdings nicht nur ein Problem von Italien, das vom übrigen Europa in dieser Frage ziemlich allein gelassen wird. Hier siegt offensichtlich politisches Kalkül über die Gebote der Menschlichkeit und auch über das Seerecht, das die Rettung Schiffbrüchiger vorschreibt. Hier müssen wir Christen immer wieder deutlich unsere Stimme erheben und ein humaneres Verhalten einfordern. Stattdessen kooperiert Europa mit Verbrechern in Libyen, die die Flüchtlinge misshandeln, missbrauchen und auch töten. Und dafür werden sie auch noch mit europäischen Geldern bezahlt. Das ist unglaublich und lässt alle Reden über die europäischen Werte als unglaubwürdig erscheinen.