"Vielfalt verbindet"
Bereits zum 43. Mail rufen die drei großen Kirchen zur Interkulturellen Woche auf. Den Auftakt für zahlreiche Veranstaltungen an über 500 Orten bundesweit bildet ein ökumenischer Gottesdienst in Hannover am 23. September 2018. Auch im Erzbistum Paderborn beteiligen sich immer mehr Gemeinden und Verbände an der Gestaltung dieser Woche und machen deutlich „Wir sind Hoffnung. Wir sind Zuflucht. Wir sind Vielfalt.“ – wie das diesjährige Plakat der Interkulturellen Woche auf den Punkt bringt. Traditionell ist in Deutschland der Freitag dem nationalen Tag des Flüchtlings gewidmet. Aus diesem Anlass äußerte sich der Sonderbeauftragte für Flüchtlingsfragen im Erzbistum Paderborn und Vorsitzende des Diözesancaritasverbandes, Domkapitular Dr. Thomas Witt, zu aktuellen Themen der Flüchtlingspolitik.
Die Interkulturelle Woche mit dem Tag des Flüchtlings steht erneut unter dem Motto „Vielfalt verbindet“. Wo sehen Sie einen Zusammenhang zwischen Vielfalt und der Flüchtlingshilfe?
Dr. Witt: Die gestiegenen Zahlen von Asylsuchenden und Flüchtlingen aus verschiedenen Ländern mit ihrer Diversität lässt unterschiedliche Lebensentwürfe und Lebensweisen aufeinanderprallen. Für viele Menschen kann das eine Verunsicherung bedeuten. Kommen dann noch Armut, ungleiche Chancenverteilung oder der demografische Wandel hinzu, kann die Sehnsucht nach „einfachen“ Lösungen und Antworten wachsen. Das „Leben in Vielfalt“ ist in unserer Gesellschaft die Basis für sozialen Frieden und eine lebendige Entwicklung. Deutschland ist diesbezüglich auf einem guten Weg; das hat das jüngste Integrationsbarometer des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration bestätigt. Ich bin froh und dankbar, dass so viele Menschen in der Flüchtlingshilfe sich für nachhaltige Integration von Geflüchteten stark machen, damit aus Vielfalt eine echte Chance entsteht.
Was halten Sie von Überlegungen, abgelehnten Asylbewerbern ohne Bleiberecht unter bestimmten Voraussetzungen einen „Spurwechsel“ vom Asyl- ins Zuwanderungsrecht zu ermöglichen?
Dr. Witt: Es gibt unterschiedliche Regeln für die Aufnahme von Flüchtlingen aus humanitären Gründen und für eine Zuwanderung von Arbeitskräften. Bei dieser Zweiteilung sollte es grundsätzlich auch bleiben. Ob ein Asylbewerber in Deutschland bleiben darf, hängt allein von der Verfolgung in seinem Heimatland ab. Faktoren wie Ausbildung, Arbeitserfahrungen und Sprachkenntnisse spielen dabei keine Rolle. Aber gut integrierte Menschen mit einer Duldung, die Deutsch sprechen und hier arbeiten, sollten ab einer bestimmten Aufenthaltsdauer eine Bleibeperspektive bekommen.
Welche Bedeutung könnten humanitäre Aufnahmeprogramme haben – neben der Möglichkeit einen Asylantrag in Deutschland zu stellen?
Dr. Witt: Humanitäre Aufnahmeprogramme bieten eine Möglichkeit für sichere und legale Wege vom Erstaufnahmeland nach Deutschland. In diesem Rahmen erfolgt auch eine Identitäts- und Sicherheitsprüfung, der Bedarf an Schutzbedürftigkeit wird anhand der Schutzkriterien des UNHCR festgestellt und es kämen nachweislich schutzbedürftige Personen nach Deutschland. Deutschland sollte im Rahmen von humanitären Aufnahmeprogrammen verstärkt besonders schutzbedürftige Personen unter den Asyl- und Schutzsuchenden ins Land holen. Dazu gehören z.B. Menschen mit Behinderungen, ältere Menschen, Schwangere und alleinerziehende mit minderjährigen Kindern. Das Recht auf Asyl von Menschen, die über andere Wege als über Aufnahmeprogramme nach Europa kommen, darf allerdings nicht angetastet werden.
Seit einem Monat gilt die Neuregelung zum Familiennachzug zu den sog. subsidiär Schutzberechtigten. Was ist Ihre erste Einschätzung?
Dr. Witt: Das Ergebnis des hitzigen Gesetzgebungsverfahrens wird dem Grund- und Menschenrecht auf Familie nicht gerecht und ist in menschlicher Hinsicht nicht vertretbar. Statt der willkürlich vereinbarten Zahl 1.000 Personen pro Monat wurden im vergangenen August gerade einmal 42 Visa erteilt! Das Verfahren wird weder dem Grundbedürfnis von schutzberechtigten Menschen, noch unserem Verständnis von Ehe und Familie gerecht. Bevorstehende Wahlen dürfen die Politik und Gesellschaft nicht davon abhalten, seriöse Debatten zu führen.
Das Verhalten der Grenzschutzbehörden im Mittelmeer und die Forderungen in manchen Städten, sich stärker für Menschen in Seenot zu engagieren, widersprechen sich sehr. Was ist die Haltung der Kirche zu diesem heiklen Thema?
Dr. Witt: Bei der Seenotrettung wird sich zeigen, ob die EU ihren eigenen Grundwerten gerecht wird. Hier ist die dringend notwendige Solidarität unter EU-Staaten gefragt. Als Gesellschaft dürfen wir uns keine Diskussion erlauben, ob wir Menschenleben retten wollen oder nicht. Denn es geht hier um eine humanitäre Pflicht. Wenn die Schiffe nach einem Hafen suchen, wo sie einlaufen können, dann ist es für solche Diskussionen schon zu spät. Die Debatte muss zu einem viel früheren Zeitpunkt stattfinden und von der Frage geleitet sein: Was können wir tun, damit Menschen nicht gezwungen sind, auf der Suche nach Freiheit, Sicherheit und Wohlstand ihr Leben zu riskieren.
Bei Abschiebungen nach Afghanistan gehen die Meinungen stark auseinander. Welche Position vertritt hier die Kirche?
Dr. Witt: Grundsätzlich ist unser Standpunkt, dass niemand abgeschoben werden darf, wenn Gefahr für Leib und Leben besteht. An dieser Stelle möchte ich betonen, dass Kirche und Caritas sich nicht grundsätzlich gegen Abschiebungen aussprechen. Nach Überprüfung der individuellen Schutzbedürftigkeit, die menschenrechtliche Vorgaben in einem fairen Verfahren hinreichend gewährleistet, kann eine Rückführung durchaus in Frage kommen. Doch die Fakten sprechen aktuell gegen Abschiebungen nach Afghanistan. Der UNHCR hat am 30.8.2018 seine neuen Richtlinien zu Afghanistan veröffentlicht und beschreibt, wie dramatisch die Lage dort ist. Diese Beschreibung steht diametral zur derzeitigen Praxis der Abschiebungen nach Afghanistan. Politik und Gerichte müssen diese Warnhinweise ernst nehmen.
Das Argument, dass unter den Abgeschobenen Straftäter seien, kann zwar dazu dienen manchen zu beruhigen, läuft aber auf eine Schädigung der Rechtsstaatlichkeit hinaus. Auch für Straftäter gilt das Recht. Und das ist nicht primär eine Schwäche unseres Staates, sondern seine Stärke, um die uns viele Menschen in der Welt beneiden.
Das Interesse der Politik richtet sich seit Ende 2015 verstärkt auf die Bekämpfung der Ursachen der Flucht nach Europa. Welche Rolle spielt aus Ihrer Sicht die Entwicklungshilfe bei der Bekämpfung von Fluchtursachen?
Dr. Witt: M. E. führt der verbesserte Entwicklungsstand eines Landes nicht zu weniger Migration - wie Auswertungen von Migrationsbewegungen zeigen. Mehr verfügbares Geld und ein durch Bildung, Internet und Reisemöglichkeiten erweiterter Horizont verstärken bei jungen Menschen den Wunsch nach neuen Perspektiven im Ausland. Die Ursachen der Flucht von weltweit derzeit circa 66 Millionen Menschen liegen vorrangig in anhaltender Gewalt, Krieg, Bürgerkriegen und fortgesetzten Menschenrechtsverletzungen in ihren Heimatländern. Eine Erhöhung der Mittel für die Entwicklungshilfe wird m.E. den Druck an den Außengrenzen der EU nicht rasch verringern, da weltweit die Zahl der Vertriebenen und Asyl- und Schutzsuchenden weiter steigt. Natürlich müssen weltweit die Lebensbedingungen der Armen auch durch politische Konsequenzen in den Ländern der Reichen, zum Beispiel in der Agrar-, Handels- und Rüstungspolitik verbessert werden. Das wird langfristig zu mehr Gerechtigkeit führen und die wird dann hoffentlich auch Grundlage für viele Kriege und Bürgerkriege reduzieren. Aber all diese Maßnahmen werden nur langfristig wirken. In der Zwischenzeit werden wir nach gerechten Wegen für alle Menschen in unserem Land suchen müssen.
Das Gespräch führten Heribert Krane und Hezni Barjosef.